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Gegen Verbrechen und Vergessen (DING-Wanderung)
Donnerstag, 4. Juli

Es ist keine normale Wanderung, die von Grafeneck (bei Marbach im Lautertal) nach Buttenhausen führt. Grafeneck war während der Zeit des Nationalsozialismus eine Tötungsanstalt für Behinderte. In Buttenhausen lebte vom 18. Jahrhundert bis 1943 eine große jüdische Gemeinde. Darüber hinaus ist es der Geburtsort von Matthias Erzberger, einem Politiker im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts, der 1921 von der rechtsterroristischen Organisation Consul ermordet wurde. Und last not least verbrachte Gustav Mesmer, Korbflechter, Visionär und Flugfahrradbauer, seine letzten Lebensjahre in Buttenhausen.

Mehrere Gründe für eine Wanderung gegen Verbrechen und Vergessen, die gerade auch in der heutigen Zeit wieder verstärkt ihre Berechtigung hat.

So trafen sich rund 20 interessierte Teilnehmer am Hbf in Ulm, um mit einem alten Schienenbus der SAB die Anreise zu dieser Wanderung anzutreten. Über Schelklingen und Münsingen ging es so nach Grafeneck, wo wir zum Schloss hinaufstiegen. Dieses ( https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Grafeneck) hat eine bewegte Vergangenheit. Einst war es Jagdschloss von Württemberg. Als diese allmählich die Lust daran verloren und ihr Interesse eher auf ihre Sitze um Stuttgart und Ludwigsburg verlegten, wurde es im 19. Jahrhundert zum Forstamt. 1928 wurde es vom Samariterstift übernommen, die dort ein Heim für Behinderte einrichtete, welches vom Württembergischen Innenministerium nach dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs nach Oberschwaben verlegt wurde. Im Oktober 1939 wurde es ‚für Zwecke des Reiches‘ beschlagnahmt und dort eine Tötungsanstalt errichtet. Von Januar bis Dezember 1940 wurden dort 10.700 Behinderte und psychisch Kranke mit Kohlenmonoxid ermordet. Danach wurde die Tötungsanstalt nach Hadamar im Westerwald verlegt.

Nach dem Krieg wurden dort eine Gedenkstätte und seit 2005 ein Dokumentationszentrum eingerichtet. Heute ist Schloss Grafeneck eine Einrichtung der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie.

Erst ein baden-württembergischer Ministerpräsident (Winfried Kretschmann) hat bislang diese Gedenkstätte besucht.

Der Besuch des Dokumentationszentrums hat etwas sehr Bedrückendes. Dies wird dadurch verstärkt, dass viele Verantwortliche dieser Tötungsanstalt gar nicht oder nur sehr glimpflich bestraft wurden.

Unsere Wanderung ging dann bei wechselhaftem Wetter über Marbach, Dapfen, Wasserstetten (dort erfreute uns an einem Bauernhof eine Schar von Alpakas) unten durch das Lautertal nach Buttenhausen.

Von dort ging es dann noch ein kurzes Stück bis Buttenhausen (https://de.wikipedia.org/wiki/Buttenhausen) und – etwas beschwerlich – zunächst hinauf zum jüdischen Friedhof.

Hier in Buttenhausen war einst eine große jüdische Gemeinde. Dies begann ende des 18. Jahrhunderts mit einen von Philipp Friedrich Freiherr von Liebenstein erlassenen ‚Judenschutzbrief‘. Er erlaubte zunächst 25 Familien die Ansiedlung im Dorf. Das Schutzgeld je Familie betrug wohl jährlich 12 Gulden, wobei ein Gulden damals etwa einer heutigen Kaufkraft von € 50 entsprach. So sicherte sich der Freiherr ein zusätzliches jährliches Einkommen von rund 15.000 € (wahrscheinlich steuerfrei). Danach entwickelte sich eine große jüdische Gemeinde, die 1870 aus 442 Einwohnern (mehr als die Hälfte der gesamten Einwohnerschaft) bestand. Als erfolgreiche Geschäftsleute brachten die jüdischen Bürger Wohlstand und technische Neuerungen nach Buttenhausen. Um 1800 wurde eine Synagoge erbaut, die 1938 in der Reichsprogromnacht zerstört wurde (heute steht dort ein Denkmal). 1933 lebten noch 97 Juden in Buttenhausen; 24 von ihnen wurden deportiert und ermordet. Danach war das jüdische Leben dort erloschen. Einige wenige Häuser sind noch erhalten und dienen als Gedenkstätten.

Geht man vom jüdischen Friedhof Richtung Lauter und Ortsmitte weiter, so kommt man am Geburtshaus von Matthias Erzberger vorbei, das heute ebenfalls als Gedenkstätte dient.

Erzberger wurde 1903 Abgeordneter für die Zentrumspartei im Reichstag und dort vor allem als Kritiker der Kolonialpolitik bekannt. Im November 1918 unterzeichnete er als Bevollmächtigter der Reichsregierung den Waffenstillstand von Compiègne. Später wurde er in der Weimarer Republik Finanzminister. Eine Hetzkampagne des deutschnationalen Politikers Karl Helfferich und der damit verbundene Prozess zwangen ihn 1920 zum Rücktritt. Von den Vertretern der Dolchstoßlegende wurde er als einer der ‚Novemberverbrecher‘ (bezogen auf das Jahr 1918) bezeichnet. 1921 wurde Erzberger von der rechtsterroristischen Organisation Consul ermordet.

Ein weiteres Gedenken gebührt auch Gustav Mesmer. Er kam 1903 in Oberschwaben zur Welt, fiel früh durch ‚eigenes und stilles Wesen‘, sowie einem starken Eigensinn auf und landete 1929 in der psychiatrischen Heilanstalt in Bad Schussenried.

Dort galt er als ‚tüchtiger Arbeiter‘ in der Buchbinderei. Über einen Zeitungsartikel wurde sein Interesse an einer Flugmaschine geweckt, die über ein Fahrrad betrieben wurde und die ihm sein weiters Leben begleitete. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlernte er in der Anstalt die Korbflechterei und wurde 1949 auf eigenen Wunsch nach Weißenau verlegt. 1962 schrieb er seine Biografie mit dem Titel ‚Von einer Person, deren Lebensweg durch Orden wie psychiatrisches Krankenhaus führte‘. 1964 wurde er schließlich in ein selbstbestimmtes Leben entlassen. Ein Altenheim in Buttenhausen war Mesmers letzte Lebensstation. Hier sorgte er bei der Erprobung seiner aus allerlei Schrott verfertigten Flugmodelle für Aufsehen, so etwa mit einem umgebauten Damenfahrrad. Nach einiger Zeit erhielt er von der Bevölkerung den Namen ‚Ikarus vom Lautertal‘.

Bis 2023 gab es in Buttenhausen in dem Altenheim auch noch ein ‚Café Ikarus‘, in dem einige Bilder von ihm und seinen Fluggeräten zu sehen waren. Vielleicht wird dieses Café irgendwann wieder zum Leben erweckt; dies wäre ein passender Ort für eine Einkehr in Buttenhausen.

Wir schlugen uns mit dem Bus nach Münsingen und weiter nach Laichingen durch, wo wir in einem anderen Café eine Einkehr fanden. Von dort ging es mit dem Bus weiter nach Merklingen und mit dem IRE 200 zurück nach Ulm.

Volker Korte; 29. Juli 2024
 
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